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Österreich braucht Generalüberholung und Modernisierungsschub

In einem seiner seltenen Beiträge über Österreich hat der renommierte und weltweit gelesene „Economist“ kürzlich den Zustand unseres Landes beschrieben, mit einem wenig schmeichelhaften Ergebnis: Während wir früher beigetragen haben, Probleme zu lösen, sind wir inzwischen Verursacher selbiger geworden. 

Aktuell zeigt sich dies etwa im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine, früher vor allem bei Menschenrechtsfragen oder der Behandlung illegaler Migranten. Ein widersinniges Schengen-Veto gegenüber Rumänien und Bulgarien sowie die EU-widrigen, provokanten Grenzkontrollen gegenüber Slowenien sind weitere Beispiele. 

Als Folge haben wir international bedrohlich an Ansehen verloren und isolieren uns innerhalb der EU immer mehr. Wir klammern uns realitätsfern an die Neutralität und verwenden diese als Feigenblatt, obwohl wir uns selbst nicht verteidigen können und uns daher auf den Sicherheitsschirm der NATO – das heißt der USA – verlassen, gleichzeitig aber die sicherheitspolitische Entwicklung Europas immer wieder blockieren. Gleichzeitig werden die Beistandspflicht nach Artikel 42/7 des Lissabonner Vertrages und die darauf bezogene Bestimmung des Artikels 23j unserer Bundesverfassung und damit europäischer Solidarität ignoriert, wie sich jüngst bei der Verweigerung einer militärischen Ausbildung von Ukrainern und bei der Bereitstellung von Entminungshilfe zeigte. Ein weiteres beschämendes Beispiel ist Österreichs Verweigerung einer Sicherheitsgarantie für die Ukraine. Ohne eine solche wird kein Frieden zu erreichen sein. Diese Haltung widerspricht im Übrigen der eigenen Verfassung. Sie macht uns immer mehr zum lästigen Außenseiter in der EU.

 Österreich hat sich, im Unterschied zur Donaumonarchie oder dem politisch zerrissenen Armenhaus der Ersten Republik, nach 1945 trotz aller Opfer, Zerstörungen und Belastungen durch zehnjährige Besatzungszeit sowie den Zahlungen für den Staatsvertrag an die Sowjetunion, während die USA den Marshallplan bereitstellten, zu einem der wohlhabendsten Länder mit besonders geräumigem Wohlfahrtsstaat, aber auch Rekordsteuerbelastung entwickelt. Möglich gemacht hat dies ein System der Zusammenarbeit von Politik und Sozialpartnern sowie einem Mischsystem von Marktwirtschaft, staatlicher Rahmenbedingungen und Interventionen bei sozialem Ausgleich, vor allem aber als Folge von Leistungswille und Leistungsbereitschaft der Menschen. Dies mag kein Idealsystem gewesen sein, aber sicher besser als alle anderen in der Regel autokratischen Systemen, die glanzvoll gescheitert sind.

 Seit einem Vierteljahrhundert machen sich allerdings in immer mehr Bereichen Stillstand und zunehmend Rückschritt breit. Wir verlieren laufend an Boden, sind von der Überholspur auf die Kriechspur gewechselt und vielfach am Pannenstreifen gelandet. Mit oft widersprechenden Geboten und Verboten sowie einspruchsbedingt endloser Bewilligungsverfahren erleiden wir eine Selbstblockade. Wir haben verabsäumt, für wichtige Projekte, vor allem der Infrastruktur des rechtlichen Tatbestands „überragendes öffentliches Interesse“ zu schaffen, wie dies anderswo längst geschehen ist. Parallel führten die zahlreichen Kanzlerwechsel und das damit einhergehende Ministerkarussell zu politischer Instabilität, Lähmung und außenpolitischer Isolierung. Als Folge des daraus resultierenden Einbruchs der politischen Mitte erleben wir einen Rechtsruck à la Orban bei gleichzeitigem Erstarken eines ideologisch kulturkämpferischen Linkspopulismus. Diese Entwicklungen sind besorgniserregend und demokratiegefährdend.

 Als Resultat dieser Entwicklungen haben sich zahlreiche Probleme angehäuft. Unser über lange Zeit vorbildlicher und großzügig ausgebauter Sozialstaat steckt in immer größeren Schwierigkeiten, sodass trotz Rekord-Sozialquote wachsende Armut beklagt wird. Wir sind nicht nur blind für die demografischen Veränderungen und ihre Auswirkung auf das Pensionssystem, die Pflegeeinrichtungen und das Gesundheitssystem, sondern halten uns nicht einmal mehr an die selbst gegebenen Regeln und behaupten, alles sei sicher. Tatsächlich haben wir aber zu wenig Pflegepersonal, zu wenige Ärzte, zu wenig Krankenhauspersonal oder Lehrpersonal etc. Verglichen mit diesem Verhalten ist eine Vogel-Strauß-Politik von Weitsicht geprägt.

Desgleichen zeigt sich beim Thema Integration. Wir lassen illegale Migranten über Ungarn ungehindert ins Land, nehmen sie zu hohen Kosten in unser Sozialsystem auf, lassen sie aber nicht arbeiten, obwohl sie damit einen Beitrag zu diesem leisten könnten – und das, obwohl wir mit großem Arbeitskräftemangel kämpfen.

Auch von wirtschaftlicher Landesverteidigung kann keine Rede sein. Das haben wir bei Impfstoffen oder Masken in der Pandemie erlebt, das erleben wir immer noch bei Medikamenten, weil wir die Preise gedrückt und die Produzenten zur Auslagerung in andere Regionen gezwungen haben. Nun stehen wir mit leeren Händen da und müssen Medikamentenengpässe beklagen. Besonders ausgeprägt ist dies bei der Energieversorgung.

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Beängstigend ist unsere abnehmende Wettbewerbsfähigkeit. Wegen des lähmenden Stillstands fallen wir in nahezu allen Bereichen immer weiter zurück. Die selbstgemacht überhohe Inflation bei schrumpfender Wirtschaft und die unverständlich hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig großer Personalnot zeigen dies deutlich. Bei Wettbewerbsfähigkeit sind wir von Rang 11 im Jahr 1999 auf Rang 24 zurückgefallen. Die widersinnig selbstgemachte veritable Überinflation – sie wird nur von der Populismusinflation noch übertroffen –, und ihre Folgewirkungen durch Zweitrundeneffekte werden eine weitere Verschlechterung bringen. Dabei gehen wir ohnehin mageren Jahren entgegen. Dies ist Ausdruck immer größerer Strukturschwäche als Folge von Versäumnissen, Unterlassungen und Fehlentscheidungen als Ergebnis von widersprüchlicher Regulierung und strangulierendem Vorschriftendschungel. Es fehlt seit langem eine angebotsorientierte, schlüssige Wirtschaftspolitik. Dazu gehört an vorderster Stelle eine zeitgemäße Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik. Während Amerika und Asien investieren und Technologieentwicklung fördern, konzentriert sich die EU auf Regulierung, womit die Wirtschaftskraft gelähmt wird und nur mehr ein Freilichtmuseum übrig zu bleiben droht. Diese Fehlentwicklung wird in Österreich durch subventionsaufwendige Strukturkonservierung, die zur Struktursklerose geführt hat, bei Weitem übertroffen. Umso mehr sind Reformen und Strukturverbesserungen überfällig.

Die Digitalisierung wiederum hat zahlreiche Auswirkungen, vor allem auf das Bildungssystem. Dieses ist mit Halbtagskindergärten und -schulen, mit Drill und Dressurunterricht sowie mangelnder Ausstattung bei digitalen Geräten nahezu steinzeitlich. Vor allem aber fehlt es an Informatikunterricht und damit der Sicherstellung einer digitalen Grundausbildung. Es darf nicht verwundern, dass wir im Digitalbereich ein Entwicklungsland sind. Eine höhere „digital literacy“ ist dringend notwendig, um den Veränderungen in der Arbeitswelt und den damit verbundenen neuen Anforderungen Rechnung zu tragen: Es wird nicht weniger Arbeitsplätze geben, sondern andere. Auch bei der Ausrollung des Breitbandglasfasernetzes bis zum Nutzer liegen wir weit zurück.

Ähnlich zukunftsvergessen agieren wir in den Bereichen Wissenschaft und Forschung – die bei weitem nicht jene Zuwendung bekommen, die sie verdienen, obwohl sich unser Wohlstand nur dadurch sichern lässt, dass wir stetig innovativ sind und mit neuen Produkten und Dienstleistungen auf den Weltmärkten punkten können – und beim Klimaschutz, wo wir seit Langem keine vernünftige Energie- und Verkehrspolitik aufweisen. Nicht nur Zwentendorf haben wir nicht in Betrieb genommen, auch den Ausbau der Wasserkraft haben wir verhindert, wie die Beispiele Hainburg, Dorfertal und andere zeigen. Die Kaprun-Leitung wird bis zur Fertigstellung 30 Jahre gedauert haben, doch auch dann fehlen noch weitere 1.000 Kilometer Leitungsbau, der aber ständig blockiert wird – eine Achillesferse der Stromversorgung. Bis 2040 müssten 40 Milliarden Euro investiert werden, um den Rückstand zu beseitigen, aber nur, wenn es die Bewilligungen dafür gibt. Wir verweigern die Nutzung unserer eigenen Erdgasvorkommen auch mittels ökologischem Fracking, importieren aber teures und schmutzig gefracktes Gas. Weiters verbieten wir die Speicherung und Remineralisierung von CO2, und behaupten irreführend, atomstromfrei zu sein, obwohl ohne Atomstrom aus Temelin in Wien die Lichter ausgehen würden. Das Ergebnis dieses Schlamassels: Wir decken 60 Prozent unseres Energieverbrauchs aus importierten fossilen Energieträgern, vor allem mittels verwundbarer Abhängigkeit von russischem Erdgas. Dies alles ist Ausdruck ideologisch ausgerichteter Technologiefeindlichkeit. Klimaschützende Maßnahmen sowie die Sicherung leistbarer Energieversorgung benötigt aber Technologieoffenheit.

Es fehlt an leistbaren Wohnungen. Die Ursache ist deutlich weniger Wohnungsbau, vor allem im kommunalen und sozialen Bereich, weil man die Zweckbindung des Wohnbauförderungsbeitrages, der ein Teil der Lohnnebenkosten ist, aufgehoben hat und die Mittel anderweitig verwendet wurden und werden. Die Baukosten werden durch immer mehr Auflagen immer höher. Es wird immer schwieriger ohnehin bei höheren Zinsen Kredite zu bekommen. Der Vorschriftendschungel der Mietgesetzgebung erhöht die Zahl der Leerstandwohnungen und verhindert ihre Qualitätsverbesserung. Das Ergebnis ist dann das Wahlresultat in der Stadt Salzburg.

Bei der Inflation sind wir in Europa Spitzenreiter wie auch bei der Besteuerung, die wir weiterhin kräftig erhöhen wollen, mit dem Ergebnis höchster Arbeitskosten und zu niedrigem Nettolohn. Die Inflation wurde und wird durch öffentliches Helikoptergeld nach dem Gießkannenprinzip angetrieben. Gleichzeitig erhöht die öffentliche Hand kräftig die Gebühren, Mieten oder den Kostenbeitrag für das Mittagessen im Kindergarten und ist zugleich Inflationsgewinner durch (Über)Steuereinnahmen. Die Folge dieser Sorglospolitik sind enorm steigende Ausgaben für den Schuldendienst – explodierte Staatsschulden: von 141 Mrd. Euro 2000 auf 367 Mrd. Euro 2024.

Die Liste an Problemen ließe sich noch lange fortsetzen. Die Schwierigkeiten werden immer mehr und zugleich größer, ohne dass Lösungsmöglichkeiten angeboten und umgesetzt würden. Man flüchtet sich – dem widersinnigen Motto „koste es was es wolle“ folgend – in Geldverschwendung und wirft wahl- und ziellos Unsummen beim Fenster hinaus, während gleichzeitige punktuelle Maßnahmen immer wieder widersprüchlich und kontraproduktiv sind. Man agiert zukunftsvergessend nach dem Motto: „Verkauft’s mei G’wand, i fahr‘ in‘n Himmel!“

 Alles in allem braucht es eine Generalsanierung in nahezu allen Bereichen, einen Modernisierungsschub und dazu einen kraftvollen Aufbruch, um das zu erreichen, was unter gleichen Umständen der Schweiz, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern etc. längst gelungen ist. Derzeit aber entspricht dem populistischen Schein kein reales Sein, und der ideologisch geprägten Ankündigungsinflation folgt keine lösungsorientierte Verwirklichung. Das heißt, Worte ohne Taten.

Damit aber bekommen die Menschen keine Antworten auf die Fragen der Zeit, sodass sie keine Orientierung finden und ihnen keine Perspektive eröffnet wird. Dies betrifft insbesondere die Jugend. Die Sehnsucht, nach all den Schocks und Krisen neue Normalität zu finden, bleibt folglich unerfüllt. Dies führt zu Unsicherheit, Besorgnis und Ängsten und äußert sich zunehmend in Wut, wie die jüngsten Wahlergebnisse deutlich machen. Um die überfällige Kursänderung vorzunehmen, müssen wir uns Klarheit verschaffen, wie unsere Möglichkeiten, aber auch unsere Beschränkungen aussehen, um unsere Rolle in der Welt und vor allem innerhalb Europas zu finden. Dies erfordert eine Standortbestimmung der geopolitischen und geoökonomischen Gegebenheiten sowie der technologischen Entwicklungen.

Wenn wir einen zukunftsorientierten Weg in Frieden, Freiheit und Sicherheit bei Wohlstand und Wohlfahrt in einem zusammenwachsenden Europa finden wollen, müssen wir uns auch aktiv mit den planetaren Herausforderungen beschäftigen – mit der Notwendigkeit der Dekarbonisierung bei demografischen Veränderungen und mit den zunehmenden Auswirkungen der Digitalisierung, die sich zuletzt durch die Entwicklungen bei Künstlicher Intelligenz enorm beschleunigt hat. Für all diese Probleme und Aufgaben braucht es entsprechender gesamthafter Konzepte und entschlossene politische Umsetzungsfähigkeit.

Über den Autor

Hannes Androsch blickt auf eine lange Karriere in Politik und Wirtschaft zurück. In der Zeit der SPÖ-Alleinregierung unter Bundeskanzler Bruno Kreisky prägte Hannes Androsch die Österreichische Politik von 1970 bis 1981 als Finanzminister und ab 1976 auch als Vizekanzler der Republik Österreich. Seit 1989 ist er als Industrieller tätig. In seinem Selbstverständnis als Citoyen ist er gesellschafts-, wirtschafts- und wissenschaftspolitisch engagiert. Neben seinen regelmäßigen Kommentaren zum Zeitgeschehen ist Hannes Androsch auch Herausgeber und Autor zahlreicher Publikationen.

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